Der Scrum Guide wurde zuletzt im Jahr 2020 aktualisiert. Seitdem hat sich viel verändert: Die Welt verändert sich schnell, Teams sind verteilter, Probleme sind komplexer und die Erwartungen sind höher denn je. Was kann getan werden, um zu verhindern, dass Scrum an Relevanz verliert?

Die Antwort darauf ist das „Scrum Guide Expansion Pack”. Er unterstützt Scrum-Praktiker:innen dabei, sich weiterzuentwickeln, um all diesen Herausforderungen zu begegnen. Er bietet ein Toolkit für die Zukunft, das Scrum-Praktiker:innen dabei unterstützt, Scrum tiefgreifend zu verstehen und es weise anzupassen. Doch was genau steht darin?

Hinweis: Gerne gebe ich dir meine persönliche Reaktion auf das Expansion Pack und teile, was ich für am interessantesten und wichtigsten halte. 

Während der 9-seitige Scrum Guide von 2020 kurz und prägnant ist und sich auf das Kern-Framework fokussiert, bietet Das 50-seitige Expansion Pack mehr Tiefe, mehr Theorie und mehr praktische Anleitung.  Während der Scrum Guide von 2020 als „Regelbuch” knapp und vorschreibend verstanden werden kann, ist das Expansion Pack hingegen eher wie ein „Playbook”, das das „Warum” hinter den Regeln erklärt und mehr Kontext sowie handfeste Beispiele bietet.

1. Erweiterte Rollen: Stakeholder und Supporter

Der allererste Unterschied liegt in den Rollen. Im Scrum Guide von 2020 gibt es drei Rollen: Scrum Master, Developer und Product Owner. Das Expansion Pack führt zwei neue Rollen ein: „Stakeholder” und „Supporter” (Unterstützer). Damit wird anerkannt, dass erfolgreiche Scrum-Teams nicht isoliert arbeiten. Sie benötigen Unterstützung und Engagement von der gesamten Organisation. Ein Supporter könnte beispielsweise jemand aus der Personalabteilung sein, der bei der Teamentwicklung hilft, oder jemand aus der Finanzabteilung, der das Budget mit dem Produktziel abstimmt. Der erste große Unterschied ist, dass mehr Betonung auf Leadership, Professionalität und Selbstmanagement gelegt wird. Außerdem wird KI als potenzieller Product Developer anerkannt, selbstverständlich unter menschlicher Aufsicht (weitere Informationen dazu weiter unten).

2. Neue und umbenannte Artefakte – Output und Outcome

Das Expansion Pack unterteilt die Definition of Done in zwei Teile: „Output Done” und „Outcome Done”. „Output Done” bezieht sich auf die technische Qualität, beispielsweise das Bestehen aller Tests, während „Outcome Done” den Wert betrifft – haben wir das Problem des Users gelöst? Es führt auch neue Begriffe wie „Outcome Criteria” und „Acceptance Criteria” ein, um Backlog Items aussagekräftiger zu machen. Zudem wird das Produkt als formelles Artefakt mit seinem eigenen Commitment definiert. OKR-Kenner werden den Begriff „Outcome” übrigens sehr bekannt vorkommen.

3. Empirismus, Lean Thinking, Systemdenken, Cynefin und OODA Loop

Hier glänzt das Expansion Pack wirklich. Es vermittelt viel Theorie, um Teams zu helfen, zu verstehen, warum Scrum funktioniert. Es geht um Empirismus, Lean Thinking, System-Thinking (beide aus SAFe® bekannt) und sogar um Frameworks wie Cynefin und OODA Loop (siehe unten). Cynefin hilft dir beispielsweise zu entscheiden, ob ein Problem einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch ist und wie du entsprechend reagierst. Es hilft Teams, die in einem unsicheren Umfeld arbeiten, Komplexität besser zu verstehen und sich effektiver anzupassen. Cynefin ist übrigens Teil unseres Kurses „Certified Agile Coach Advanced”.

4. Scrum-Events: Details zu den Core-Events und zum Refinement

Die Core Scrum Events bleiben bestehen, aber das Expansion Pack fügt viel mehr Tiefe hinzu. Er  legt den Fokus auf psychologische Sicherheit, Feedbackschleifen und Wertrealisierung. Zudem wird Refinement als Schlüsselaktivität formalisiert. Es wird vorgeschlagen, Metriken und flow-basiertes Denken während Sprint Reviews zu verwenden, um den gelieferten Wert besser zu verstehen. Dadurch wird der Sinn und Zweck der Events verstärkt.

5. Multi-Scrum-Team-Umgebungen und Skalierung von Scrum

Scrum zu skalieren ist schwierig und auch der Scrum Guide von 2020 widmet diesem Thema nur wenig Aufmerksamkeit. Das Expansion Pack hingegen widmet der Skalierung von Scrum mehr Beachtung. Multi-Team-Umgebungen erhalten eine viel detailliertere Anleitung. Das Expansion Pack ermutigt zu gemeinsamen Product Goals, betont die Wichtigkeit eines gemeinsamen Backlogs und des teamübergreifenden Lernens. Stell dir zum Beispiel fünf Teams vor, die am selben Produkt arbeiten – dieser Leitfaden hilft ihnen, ausgerichtet zu bleiben, ohne ihre Autonomie zu verlieren.

6. KI-Integration als (ethisch eingesetztes) Tool und Teammitglied

Der zukunftsweisendste Teil des Expansion Packs ist die KI-Integration, die aktuelle Tech-Trends widerspiegelt. KI ist jetzt Teil der Konversation. Das Expansion Pack erforscht, wie KI Teams unterstützen kann, betont aber auch die Wichtigkeit ethischer Nutzung und menschlicher Aufsicht. So könnte KI beispielsweise dabei helfen, Testfälle zu generieren oder Nutzerfeedback zu analysieren, doch die finale Entscheidung trifft immer noch ein Mensch.

7. Scrum Master – vom „Servant Leader“ zum „Transformational Leader“

Der Scrum Master ist nicht mehr nur ein „Servant Leader”. Er ist ein Change Agent. Obwohl das keine ganz neue Entwicklung ist, liegt ein großer Fokus darauf im Expansion Pack. Das Expansion Pack führt auch Leadership-Modelle wie „Intent-Based Leadership” und Frameworks wie „Humanocracy” und „Sociocracy” ein. Teams und Organisationen werden dabei unterstützt, ihre Kultur (weiter) zu entwickeln.

Humanocracy bezieht sich auf eine menschenfokussierte Organisationsstruktur, in der Menschen befähigt werden und die Gelegenheit erhalten, ihre einzigartigen Ideen und Talente einzubringen.

Sociocracy ist ein dynamisches Governance-System, das den Input aller Mitglieder einer Organisation priorisiert. Es ist ein struktureller Ansatz zur Entscheidungsfindung, der auf Zustimmung basiert. Entscheidungen werden nur getroffen, wenn kein Mitglied ernsthafte Einwände hat. Das Ziel besteht darin, ein partizipatives, effektives und effizientes System zu schaffen, das den Beitrag jedes Individuums wertschätzt.

Somit wandelt sich der Scrum Master vom „Servant Leader” zum „Transformational Leader”.

8. Neue und weiterentwickelte Terminologie

Um die Terminologie inklusiver zu gestalten, wurde sie aktualisiert. So wird beispielsweise der Begriff „Produktentwickler” anstelle von „Entwickler” verwendet, um Designer, Tester und alle anderen Rollen einzuschließen. Der Fokus liegt zudem auf „Wertrealisierung” statt nur auf „Lieferung”. Dadurch werden Teams dazu angeregt, sich auf den Outcome und nicht nur auf den Output zu fokussieren.

Fazit:

Das „Scrum Guide Expansion Pack” beweist, dass Scrum als Framework lebendig ist und sich an die Realitäten der modernen Arbeitswelt anpasst. Es verwandelt Scrum von einem einfachen Framework in ein umfassendes Toolkit und unterstützt Teams dabei, komplexe Herausforderungen zu meistern. Besonders wertvoll sind die theoretische Fundierung mit Frameworks wie Cynefin und OODA Loop (weitere Informationen dazu weiter unten) sowie die praktischen Anleitungen für Skalierung und KI-Integration. Damit wird Scrum zukunftsfähig und zu einem mächtigen Instrument für organisatorische Transformation – ein Wandel vom reinen Prozess-Framework hin zu einem ganzheitlichen Ansatz für agile Organisationsentwicklung.

Begriffserklärungen

Was sind System-Thinking und Lean-Thinking?

System-Thinking (Systemdenken) ist ein ganzheitlicher Ansatz, bei dem Organisationen als vernetzte Systeme betrachtet werden, in denen Veränderungen in einem Bereich Auswirkungen auf das gesamte System haben.
Beim Lean-Thinking steht die Wertschöpfung für den Kunden im Mittelpunkt. Dazu werden Verschwendung eliminiert und der Arbeitsfluss kontinuierlich verbessert.

Beide Denkweisen sind wesentliche Bestandteile von SAFe® (Scaled Agile Framework). Systemdenken hilft dabei, die Komplexität großer Organisationen zu verstehen und ganzheitliche Lösungen zu entwickeln. Lean-Thinking sorgt für effiziente Prozesse und einen Fokus auf den Kundennutzen. Zusammen bilden sie das Fundament für die erfolgreiche Skalierung agiler Praktiken in Unternehmen.

Wir bieten eine Reihe von SAFe®-Trainings an, die diese Prinzipien vermitteln und Ihnen helfen, die agile Transformation in Ihrer Organisation erfolgreich umzusetzen.

Was ist Cynefin?

Das Cynefin-Framework ist ein Wissensmanagement-Modell, das dazu dient, Probleme und Situationen zu kategorisieren und passende Lösungsansätze zu finden.

Das Framework basiert auf Theorien komplexer Systeme, Kognitionswissenschaft und Anthropologie und unterteilt Situationen in fünf Domänen:

  • Einfach: Ursache-Wirkung ist offensichtlich. Vorgehen: Wahrnehmen –> Kategorisieren –> Reagieren. Bewährte Praktiken anwenden.
  • Kompliziert: Ursache-Wirkung erfordert Analyse und Expertise. Vorgehen: Wahrnehmen –> Analysieren –> Reagieren. Gute Praktiken anwenden.
  • Komplex: Ursache-Wirkung ist nur nachträglich erkennbar. Vorgehen: Experimentieren –> Wahrnehmen –> Reagieren. Emergente Praktiken entwickeln.
  • Chaotisch: keine erkennbare Ursache-Wirkung-Beziehung. Vorgehen: Handeln – Wahrnehmen – Reagieren. Innovative Praktiken entdecken.
  • „Disorder“: Es ist unklar, welche Art von Kausalität vorliegt. Menschen fallen in ihre Komfortzone zurück.

Das Framework warnt vor Selbstzufriedenheit, da der Übergang von einfach zu chaotisch katastrophal sein kann.

Cynefin ist ein Modul unseres Kurses Certified Agile Coach Advanced.

Was ist OODA Loop?

Der OODA-Loop ist ein militärisches Entscheidungskonzept des Strategen John Boyd (1927–1997). Es beschreibt eine sich wiederholende Entscheidungsschleife.
OODA steht für:

  • Observe (Beobachten): Informationen sammeln
  • Orient (Orientieren): Situation bewerten und einordnen
  • Decide (Entscheiden): Handlungsoptionen wählen
  • Act (Handeln): Entscheidung umsetzen.

Die Theorie erklärt, wie Individuen oder Organisationen auf neue Ereignisse in ihrer Umgebung reagieren. Ursprünglich zur taktischen Analyse und psychologischen Lähmung von Gegnern entwickelt, wird der OODA-Loop heute auch in der Wirtschaft angewendet, beispielsweise bei Geschäftsverhandlungen oder Lernprozessen.
Das Konzept basiert auf der Idee, dass derjenige im Vorteil ist, der diese Entscheidungsschleife schneller durchläuft als seine Gegner oder Konkurrenten.

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